Von "Centros" zu "Inspire Art"
Eine kurze Zusammenfassung der Rechtsprechung des EuGH und des BGH
zum Thema Niederlassungsfreiheit in Europa


30.09.2003: EuGH - Urteil "Inspire Art" (C-167/01); EuGH bestimmt Reichweite des Niederlassungsrechts - Mehr Bewegungsfreiheit für Unternehmen innerhalb der EU

1. Artikel 2 der Elften Richtlinie 89/666/EWG des Rates vom 21. Dezember 1989 über die Offenlegung von Zweigniederlassungen, die in einem Mitgliedstaat von Gesellschaften bestimmter Rechtsformen errichtet wurden, die dem Recht eines anderen Staates unterliegen, steht einer Regelung eines Mitgliedstaats wie der Wet op de formeel buitenlandse vennootschappen vom 17. Dezember 1997 entgegen, die Zweigniederlassungen einer nach dem Recht eines anderen Mitgliedstaats gegründeten Gesellschaft Offenlegungspflichten auferlegt, die nicht in dieser Richtlinie vorgesehen sind.

2. Die Artikel 43 EG und 48 EG stehen einer Regelung eines Mitgliedstaats wie der Wet op de formeel buitenlandse vennootschappen entgegen, die die Ausübung der Freiheit zur Errichtung einer Zweitniederlassung in diesem Staat durch eine nach dem Recht eines anderen Mitgliedstaats gegründete Gesellschaft von bestimmten Voraussetzungen abhängig macht, die im innerstaatlichen Recht für die Gründung von Gesellschaften bezüglich des Mindestkapitals und der Haftung der Geschäftsführer vorgesehen sind. Die Gründe, aus denen die Gesellschaft in dem anderen Mitgliedstaat errichtet wurde, sowie der Umstand, dass sie ihre Tätigkeit ausschließlich oder nahezu ausschließlich im Mitgliedstaat der Niederlassung ausübt, nehmen ihr nicht das Recht, sich auf die durch den EG-Vertrag garantierte Niederlassungsfreiheit zu berufen, es sei denn, im konkreten Fall wird ein Missbrauch nachgewiesen.

Quelle: EuGH

13.03.2003: BGH: Im Ausland gegründete Kapitalgesellschaften sind in Deutschland rechtsfähig - Die Reaktion des BGH auf das Urteil "Überseering"

Bundesgerichtshof
Mitteilung der Pressestelle

Nr. 32/2003

Bundesgerichtshof entscheidet über die Rechtsfähigkeit einer niederländischen Gesellschaft (BV) nach Verlegung ihres Verwaltungssitzes in die Bundesrepublik Deutschland

Der VII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat in einer Sache verhandelt, in der es darum geht, ob die sogenannte Sitztheorie des Internationalen Gesellschaftsrechts uneingeschränkt aufrechterhalten bleiben kann. Eine in den Niederlanden gegründete Gesellschaft (BV) hatte einen Unternehmer mit Malerarbeiten an einem in der Bundesrepublik Deutschland gelegenen Gebäude beauftragt. Wegen behaupteter Mängel hat sie ihn beim Landgericht Düsseldorf auf Zahlung von 1.163.657,77 DM nebst Zinsen als Kostenaufwand für die Beseitigung der Mängel und daraus entstandener Schäden verklagt. Die Klage war sowohl beim Land- als auch beim Oberlandesgericht erfolglos, weil die BV mittlerweile ihren tatsächlichen Verwaltungssitz in die Bundesrepublik Deutschland verlegt und deshalb ihre Rechts- und Parteifähigkeit verloren habe. Der Bundesgerichtshof hat dem Europäischen Gerichtshof die Frage vorgelegt, ob diese, auf der Sitztheorie beruhende Auffassung mit der im EG-Vertrag vereinbarten Niederlassungsfreiheit vereinbar ist.

Der Europäische Gerichtshof hat mit Urteil vom 5. November 2002 entschieden, es verstoße gegen Artikel 43 EG und 48 EG, wenn einer Gesellschaft, die nach dem Recht des Mitgliedstaats, in dessen Hoheitsgebiet sie ihren satzungsmäßigen Sitz hat, gegründet worden ist und von der nach dem Recht eines anderen Mitgliedstaats angenommen wird, daß sie ihren tatsächlichen Verwaltungssitz dorthin verlegt hat, in diesem Mitgliedstaat die Rechtsfähigkeit und damit die Parteifähigkeit vor seinen nationalen Gerichten für das Geltendmachen von Ansprüchen aus einem Vertrag mit einer in diesem Mitgliedstaat ansässigen Gesellschaft abgesprochen werde. Mache ein Gesellschaft, die nach dem Recht des Mitgliedstaats gegründet worden ist, in dessen Hoheitsgebiet sie ihren satzungsmäßigen Sitz hat, in einem anderen Mitgliedstaat von ihrer Niederlassungsfreiheit Gebrauch, so sei dieser andere Mitgliedstaat nach den Artikeln 43 EG und 48 EG verpflichtet, die Rechtsfähigkeit und damit die Parteifähigkeit zu achten, die diese Gesellschaft nach dem Recht des Gründungsstaats besitze.

Der VII. Zivilsenat war an diese Auslegung des Gemeinschaftsrechts gebunden. Er hat es deshalb für erforderlich gehalten, die Klägerin nach deutschem internationalen Gesellschaftsrecht hinsichtlich ihrer Rechtsfähigkeit dem Recht des Staates zu unterstellen, in dem sie gegründet worden ist. Nach seiner Entscheidung ist eine Gesellschaft, die unter dem Schutz der im EG-Vertrag garantierten Niederlassungsfreiheit steht, berechtigt, ihre vertraglichen Rechte in jedem Mitgliedstaat geltend zu machen, wenn sie nach der Rechtsordnung des Staates, in dem sie gegründet worden ist und in dem sie nach einer Verlegung ihres Verwaltungssitzes in einen anderen Mitgliedstaat weiterhin ihren satzungsmäßigen Sitz hat, hinsichtlich des geltend gemachten Rechts rechtsfähig ist.

Die Parteifähigkeit der Klägerin hängt nach dem anwendbaren deutschen Prozeßrecht von der Rechtsfähigkeit ab, für die insoweit das dargestellte Personalstatut maßgebend ist.

Im Ergebnis kann die Klägerin deshalb ihre Rechte aus dem Vertrag abweichend von den Vorentscheidungen und der bisherigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs vor den deutschen Gerichten als niederländische BV verfolgen. Sie muß sich nicht darauf verweisen lassen, daß sie nach deutschem Recht als rechtsfähige Personengesellschaft aktiv und passiv parteifähig ist (vgl. BGH, Urteil vom 1. Juli 2000 - II ZR 380/00, BGHZ 151, 204). Denn eine derartige Verweisung würde ebenfalls einen Verstoß gegen die Niederlassungsfreiheit darstellen, wie der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs unmißverständlich entnommen werden kann, weil sie damit nämlich in eine andere Gesellschaftsform mit besonderen Risiken, wie z.B. Haftungsrisiken, gedrängt würde..

Urteil vom 13. März 2003 - VII ZR 370/98
Karlsruhe, den 13. März 2003

Pressestelle des Bundesgerichtshofs
Quelle: www.bundesgerichtshof.de Das Urteil in der Rechtsache VII ZR 370/98 können Sie hier im Volltext lesen.


5.11.2002: Urteil EuGH - "Überseering" (C-208/00): Die Verweigerung der Rechtsfähigkeit und Parteifähigkeit einer innerhalb der EU gegründeten Gesellschaft verstößt gegen EU-Recht

1. Es verstößt gegen die Artikel 43 EG und 48 EG, wenn einer Gesellschaft, die nach dem Recht des Mitgliedstaats, in dessen Hoheitsgebiet sie ihren satzungsmäßigen Sitz hat, gegründet worden ist und von der nach dem Recht eines anderen Mitgliedstaats angenommen wird, dass sie ihren tatsächlichen Verwaltungssitz dorthin verlegt hat, in diesem Mitgliedstaat die Rechtsfähigkeit und damit die Parteifähigkeit vor seinen nationalen Gerichten für das Geltendmachen von Ansprüchen aus einem Vertrag mit einer in diesem Mitgliedstaat ansässigen Gesellschaft abgesprochen wird.

2. Macht eine Gesellschaft, die nach dem Recht des Mitgliedstaats gegründet worden ist, in dessen Hoheitsgebiet sie ihren satzungsmäßigen Sitz hat, in einem anderen Mitgliedstaat von ihrer Niederlassungsfreiheit Gebrauch, so ist dieser andere Mitgliedstaat nach den Artikeln 43 EG und 48 EG verpflichtet, die Rechtsfähigkeit und damit die Parteifähigkeit zu achten, die diese Gesellschaft nach dem Recht ihres Gründungstaats besitzt.

Quelle: EuGH

30.03.2000: BGH läßt "Sitztheorie" durch den EuGH überprüfen
Bundesgerichtshof
Mitteilung der Pressestelle

Nr. 21/2000

Bundesgerichtshof läßt "Sitztheorie" durch den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften überprüfen

Der VII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in einem am 30. März 2000 verkündeten Beschluß Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt, die die Vereinbarkeit der sogenannten Sitztheorie mit dem im Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EG-Vertrag) verankerten Recht auf Niederlassungsfreiheit betreffen.

In dem zugrunde liegenden Rechtsstreit hat eine in den Niederlanden gegründete "BV" Gewährleistungsansprüche aus einem Bauvertrag über die Errichtung eines Hauses in Düsseldorf geltend gemacht. Nach Vertragsschluß und vor Klageerhebung hatte die "BV" ihren tatsächlichen Verwaltungssitz in die Bundesrepublik Deutschland verlegt. Die Vorinstanzen haben die Klage unter Berufung auf die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs als unzulässig abgewiesen, weil die Klägerin in der Bundesrepublik Deutschland infolge der Sitzverlegung nicht rechtsfähig und damit auch nicht parteifähig sei. Die Rechtsfähigkeit einer Gesellschaft richte sich nach demjenigen Recht, das am Ort ihres tatsächlichen Verwaltungssitzes gilt (sog. Sitztheorie). Das gelte auch dann, wenn eine Gesellschaft in einem Staat wirksam gegründet worden sei und danach ihren Verwaltungssitz in die Bundesrepublik Deutschland verlege. Eine nicht im Handelsregister eingetragene "BV" mit Verwaltungssitz in der Bundesrepublik sei nach deutschem Recht nicht rechtsfähig.

Die in vielen Staaten vertretene Sitztheorie will im wesentlichen vermeiden, daß die in dem jeweiligen Staat zum Schutz der Gläubiger und der Gesellschafter erlassenen Vorschriften dadurch leer laufen, daß sich eine Gesellschaft in einem anderen Staat gründet und sodann ihren Verwaltungssitz in den betreffenden Staat verlegt. Wäre in diesem Fall das Recht des Gründungsstaates anwendbar, wäre zu befürchten, daß sich diejenige Rechtsordnung durchsetzt, die den schwächsten Schutz dritter Interessen vorsieht.

Der Bundesgerichtshof hat dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften die Frage vorgelegt, ob eine derartige Beurteilung der in Art. 43 und Art. 48 des EG-Vertrages garantierten Niederlassungsfreiheit für Gesellschaften entgegensteht. Er hat darauf hingewiesen, daß die bisherige Rechtsprechung des Gerichtshofs in seinen unter den Kürzeln "Daily Mail" und "Centros" bekannt gewordenen Entscheidungen diese Frage nicht deutlich entschieden habe. Der Bundesgerichtshof hat zugleich angefragt, ob es die Niederlassungsfreiheit gebietet, die in anderen Staaten vertretene sogenannte Gründungstheorie anzuwenden. Danach beurteilt sich die Rechtsfähigkeit auch dann nach der Rechtsordnung des Staates, in dem die Gesellschaft gegründet wurde, wenn sie ihren Sitz nachträglich in einen anderen Staat verlegt.

Beschluß vom 30. März 2000 – VII ZR 370/98

Karlsruhe, den 5. April 2000
Quelle: BGH

9.3.1999: Urteil EuGH - "Centros" (C-212/97) Verweigerung der Eintragung einer Zweigniederlassung einer EU- Gesellschaft verstößt gegen EU-Recht

Ein Mitgliedstaat, der die Eintragung der Zweigniederlassung einer Gesellschaft verweigert, die in einem anderen Mitgliedstaat, in dem sie ihren Sitz hat, rechtmäßig errichtet worden ist, aber keine Geschäftstätigkeit entfaltet, verstößt gegen die Artikel 52 und 58 EG-Vertrag, wenn die Zweigniederlassung es der Gesellschaft ermöglichen soll, ihre gesamte Geschäftstätigkeit in dem Staat auszuüben, in dem diese Zweigniederlassung errichtet wird, ohne dort eine Gesellschaft zu errichten und damit das dortige Recht über die Errichtung von Gesellschaften zu umgehen, das höhere Anforderungen an die Einzahlung des Mindestgesellschaftskapitals stellt. Diese Auslegung schließt jedoch nicht aus, daß die Behörden des betreffenden Mitgliedstaats alle geeigneten Maßnahmen treffen können, um Betrügereien zu verhindern oder zu verfolgen. Das gilt sowohl - gegebenenfalls im Zusammenwirken mit dem Mitgliedstaat, in dem sie errichtet wurde - gegenüber der Gesellschaft selbst als auch gegenüber den Gesellschaftern, wenn diese sich mittels der Errichtung der Gesellschaft ihren Verpflichtungen gegenüber inländischen privaten oder öffentlichen Gläubigern entziehen möchten.

Quelle: EuGH